Ruth Inauen
Die 20. Guggennacht Engelburg ist die letzte, die sie organisiert.
Sylvie Ulrich, Leiterin der Sans-Papier Anlaufstelle.
Die Anlaufstelle wurde 2018 als gemeinnütziger Verein gegründet. Leiterin Sylvie Ulrich erzählt im Interview, welche Angebote es gibt, wer die Personen sind, die ihre Hilfe beanspruchen, wieso Menschen zu Sans-Papiers werden und weshalb St.Gallen eine City Card braucht.
Sylvie Ulrich, was ist die Anlaufstelle Sans-Papiers St.Gallen?
Die Sans-Papiers Anlaufstelle St.Gallen berät Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, die in der Ostschweiz leben und leistet Sensibilisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit, um auf die prekäre Lebenssituation von Sans-Papiers aufmerksam zu machen. Der Vereinsvorstand setzt sich aktuell aus acht Mitgliedern zusammen, welche die strategischen Ziele der Anlaufstelle definieren und bei der operativen Umsetzung begleiten. Durch die Expertise und Interdisziplinarität im Vorstand werden breite Wissensbestände aus den Bereichen Soziales, Recht, Bildung, Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung gestellt.
Welche Angebote bietet ihr an?
Der Verein unterstützt Sans-Papiers in spezifischen Fragestellungen und orientiert sich dabei an den Grundrechten der Schweizer Verfassung. Die Anlaufstelle agiert an der Schnittstelle zwischen Betroffenen, Behörden und Institutionen und verschafft Menschen Anschlüsse zu elementaren Grundrechten wie Bildung und medizinischer Grundversorgung. Die Sans-Papiers Anlaufstelle informiert Betroffene über ihre Rechte und bietet bei Bedarf Begleitung bei der Einforderung dieser Rechte an. Nur wer seine Rechte kennt, kann diese auch einfordern.
Wer sind die Personen, die Hilfe beanspruchen?
Die Betroffenen kämpfen alle mit ähnlichen Schwierigkeiten und Hürden in der Bewältigung ihres Lebensalltags, aber ihre Herkunft, Religion, das Alter und die Lebensgeschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Die meisten Sans-Papiers stehen in einem hohen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Mitmenschen. Die rechtliche Situation ist hoch komplex und teilweise sehr widersprüchlich. Viele Sans-Papiers kennen ihre Rechte nicht oder stehen bei der Einforderung dieser vor strukturellen Hürden. Damit sich dies ändert, braucht es pragmatische Lösungen.
Gibt es auch jugendliche Sans-Papiers?
In über 40 Prozent der Beratungen sind auch Kinder mitbetroffen. Der Zugang zur Bildung ist in der Schweiz ein Grundrecht und muss für alle Kinder zugänglich gemacht werden. Die Schule ist oft der einzige Ort, an dem Sans-Papiers Kinder Schutz erfahren, frei von Angst lernen und spielen und im Austausch mit Gleichaltrigen wichtige soziale Fähigkeiten erlernen dürfen. Ihr Alltag ist geprägt von Angst, Isolation, Armut, Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit.
Wieso werden Menschen zu Sans-Papiers?
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Menschen als Sans-Papiers in der Schweiz leben:
Abgewiesene Asylsuchende aus Krisenregionen, die nicht in ihr Herkunftsland zurückreisen können, leben in der Schweiz als Sans-Papiers in der Nothilfe;
Kinder von Sans-Papiers Eltern;
Familiäre Gründe: Familienzusammenführung oder Familiennachzug wird abgelehnt, da man nicht alle Kriterien wie zum Beispiel die Lohnhöhe erfüllt;
Politische Entscheidungen und Rahmenbedingungen, die Sans-Papiers produzieren;
Rückstufung der Aufenthaltsbewilligung aufgrund von Sozialhilfebezug.
Verschiedene Städte prüfen eine City Card, wieso braucht St.Gallen auch eine?
Die Sans-Papiers Anlaufstelle St.Gallen erachtet die Einführung einer City Card in St.Gallen als ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen und als wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Damit auch Sans-Papiers künftig ihre Rechte wahrnehmen und am öffentlichen Leben teilnehmen können.
Leistet die Stadt St.Gallen bei dieser Thematik Pionierarbeit oder gehört sie eher zu den Schlusslichtern?
In der Region Ostschweiz ist die Stadt St.Gallen Vorreiterin für den Umgang mit dem Thema Sans-Papiers und sollte auch eine Vorbildfunktion einnehmen mit der Erarbeitung von pragmatischen Lösungen. Die Ostschweiz als Region hinkt jedoch hinterher, sie hat viele Jahre keine Beratungsstelle für Sans-Papiers gehabt. Wir machen seit 2020 professionelle sozialrechtliche Beratungen für Sans-Papiers, die im Raum St.Gallen bzw. der Ostschweiz leben. In der Westschweiz und grösseren Deutschschweizer Städten und Regionen wie Zürich, Bern, Basel und Luzern wird schon viele Jahren durch professionelle Anlaufstellen Beratung angeboten und viele der Zugangshürden zu elementaren Grundrechten wie der Gesundheitsversorgung wurden strukturell verbessert, zum Teil auch von der öffentlichen Hand mitfinanziert. Die Stadt St.Gallen hat kürzlich dem Projekt «Gesundheitsmodell für Sans-Papiers» im Raum St.Gallen finanzielle Unterstützung zugesichert.
Interview: Benjamin Schmid
Lade Fotos..