Bernhard Ruchti
weiht die neue Orgel in der Kirche St. Laurenzen mit einem Konzert ein.
Der Rote Platz in St.Gallen heisst seit dem Beschluss des Stadtrats vom 23. August 2005 offiziell Raiffeisenplatz. Weil der Namensgeber – wie man heute weiss – nicht nur ein Pionier des genossenschaftlichen Bankwesens, sondern ein prononcierter Antisemit war, soll der Platz in «Recha-Sternbuch-Platz» umbenannt werden.
Stadtlounge Vor knapp zwei Jahren hat ein Kollektiv von acht Personen einen Brief an den St.Galler Stadtrat geschrieben und darin die Umbenennung des Platzes gefordert. «Er soll nicht mehr einen Antisemiten ehren, sondern einer Frau mit globalhistorischer Bedeutung», sagt Historiker Hans Fässler anlässlich einer Medienorientierung. Spätestens ab 2018 und der Publikation des Buches «Raiffeisen. Anfang und Ende», das erstmals einem grösseren Publikum die antisemitische Haltung des Bankenpioniers detailliert darlegte, wäre eine kritische Auseinandersetzung angebracht gewesen. Weil auch fast zwei Jahre nach dem Brief an den Stadtrat weder bei diesem noch bei der Raiffeisen-Bank eine Entscheidung über die Umbenennung des Platzes gefallen sei, würden die Briefunterzeichnenden ihr Anliegen nun in die Öffentlichkeit tragen. «Wir sind überzeugt, dass die Zeit gekommen ist, diese Geschichtsvergessenheit zu beenden», sagt Fässler.
Recha Sternbuch (1905 bis 1971) war eine orthodoxe Jüdin, die mit ihrer Familie in St.Gallen gelebt hat. Zur Zeit des Nationalsozialismus tat sie sich immer wieder und unter hohem persönlichem Risiko als Helferin und Retterin für jüdische Flüchtlinge hervor. Es ist bekannt, dass sie Flüchtlinge an der Grenze abholte, sie nach St.Gallen brachte, beherbergte und ihre Weiterreise organisierte. «Es ist schwer nachvollziehbar, dass dieser prominente städtische Platz offiziell noch immer 'Raiffeisenplatz' heisst, obschon Raiffeisen ein notorischer Antisemit war», sagt Paul Rechsteiner. Mit Recha Sternbuch würde eine mutige Frau geehrt und sowohl die Stadt wie die Bank erhielten die Chance, ein Zeichen für die Zukunft zu setzen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Recha Sternbuch habe mit unermüdlichem Mut und Vehemenz nach grundlegenden ethischen Haltungen gelebt und in der Zeit des Naziregimes gehandelt. «Sie versinnbildlicht wie keine Zweite den Satz: Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt», sagt Batja P. Guggenheim-Ami von der jüdischen Gemeinde St.Gallen. «Die neue Namensnennung wäre für uns Verneigung und Dankbarkeit gegenüber Recha Sternbuch.» Ihr Gedenken wäre Trost für diejenigen, die unter dem Holocaust gelitten haben und für die Nachwelt wäre es ein lebendiges Beispiel für Zivilcourage. Für Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, stünde St.Gallen nichts besser an, als vor der Tür der Stadt einen gemeinsamen Ort des Nachdenkens der Schweiz und seiner Nachbarn entstehen zu lassen. «Der Recha-Sternbuch-Platz wäre ein Ort, der an die Geschichte von Flucht und Asyl im Namen der ganzen Schweiz erinnern wird.»
Fluchthilfe sei auch heute noch eine diskrete Sache, weiss Historiker Stefan Keller. Erfolgreiche Fluchthilfe bleibe oft unentdeckt. Nur dort, wo die Fluchthilfe auffliege und zum amtlichen Tatbestand werde, entstünden Akten mit den Namen der Fluchthelferinnen und -helfer. «Als Historiker war ich oft froh um solche Akten, weil sie mir die Vorgänge erklärten», sagt Keller. Für die Betroffenen war ihre Existenz jedoch ein furchtbares Zeichen des Scheiterns. «Eine gescheiterte Fluchthilfe hatte für die Flüchtlinge in vielen Fällen den Tod zur Folge.» Aus Kellers Sicht ist es schade, dass es keine Prozessakten zur Tätigkeit Recha Sternbuchs und ihrer Familie gebe. «Aber alle, die sich mit ihrer Geschichte beschäftigt haben, alle, die noch Überlebende kannten und befragten, Leute, die von ihr gerettet wurden, wissen: Diesen Platz hier, einen Recha-Sternbuch-Platz, hätte sie wirklich schon lange verdient», sagt der Autor.
Pipilotti Rist, die mit Carlos Martinez vor mehr als 18 Jahren den Platz gestalten durfte, ist es wichtig, dass sie sich als Schweizerin an die Geschichte des Antisemitismus erinnert und auch daran, wie die Schweiz mit den Opfern des Nationalsozialismus umgegangen ist und was sie heute beitragen kann, damit sich das nicht wiederhole. «Ich bin überzeugt, dass der Platz mit dem Namen von Recha Sternbuch ein Beitrag ist, dass wir uns immer wieder daran erinnern, dass Zivilcourage und gesellschaftliches Engagement, wie sie Recha Sternbuch unter schwierigsten Umständen geleistet hat, die wichtigsten Elemente in unserer Demokratie sind», sagt die Künstlerin. «Wir müssen Zivilcourage schützen, pflegen und selbst leisten.» Rist möchte nicht, dass ein von ihr mitgestalteter Platz mit einem Antisemiten in Verbindung gebracht wird. «Ich wünsche mir ein Denkmal für eine einzigartige, couragierte und weltoffene Frau, die in ihrem Rahmen so viel mehr leistete als die meisten ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.» Dass die Öffentlichkeit zum ersten Mal erfährt, dass in St.Gallen ein zentraler öffentlicher Platz nach einem Antisemiten benannt ist, werde seine Wirkung nicht verfehlen, sind sich die Anwesenden einig. «Die Umbenennung wird kommen», sagt Fässler, «die Frage ist nicht ob, sondern wann.»
Von Benjamin Schmid
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