Ursula Forrer
feierte mit der Stiftung Zeitvorsorge das 10-Jahres-Jubiläum.
Häusliche Gewalt im Kanton St.Gallen hat 2023 zugenommen: Die Kantons- und die Stadtpolizei mussten 1’732 Mal im häuslichen Bereich intervenieren. Das sind 500 Einsätze mehr in diesem Bereich als noch 2015, was einer Zunahme von rund 40 Prozent entspricht.
Übergriff Kam es 2015 in der Stadt St.Gallen zu 211 polizeilichen Interventionen wegen häuslicher Gewalt, waren es im letzten Jahr 267 – eine Zunahme von rund 26 Prozent. Im restlichen Kanton kam es im gleichen Zeitraum zu einer Zunahme der Interventionen von rund 43 Prozent. In rund einem Drittel der Fälle 2023, also bei etwa 550 Einsätzen, trafen die Einsatzkräfte auf strafrechtsrelevante Sachverhalte, wobei 507 Männer, 213 Frauen und 17 Minderjährige in der Rolle der gewaltausübenden Person waren. Im Interview ordnet Petra Baumann, Leiterin der Koordinationsstelle für Häusliche Gewalt und Menschenhandel im Kanton St.Gallen, die Zahlen ein, erklärt, welche Faktoren dazu beitragen, dass häusliche Gewalt entsteht und welche Unterstützungs- und Hilfsangebote Opfern zur Verfügung stehen.
Petra Baumann, die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Die Interventionen nehmen zu. Worauf führen Sie das zurück?
Das Phänomen Häusliche Gewalt ist zu komplex, als dass man es mit Zahlen allein abbilden oder Rückschlüsse ziehen könnte. Diese sagen nichts über das Anzeigeverhalten der involvierten oder auch anderer Personen aus. Sie sagen auch nichts über die Qualität der Gewalt in den Familien aus.
Sind diese Zahlen nur die Spitze des Eisbergs?
Es kann davon ausgegangen werden, dass viele Fälle ungemeldet bleiben. Gründe können die Angst vor Vergeltung oder mangelndes Vertrauen sein, dass sich effektiv etwas verändern kann. Darüber kann nur spekuliert werden.
Sehen Sie auch eine Veränderung bei den Formen häuslicher Gewalt?
Ich kann hier die Polizeiliche Kriminalstatistik zu Rate ziehen. Hieraus ist ersichtlich, dass die schwereren Straftaten bemerkenswert zurückgegangen sind zwischen 2022 und 2023. Die Formen von häuslicher Gewalt, also körperliche, psychische oder sexualisierte Gewalt, manchmal in verwobener Form, bleiben.
Welche Formen von häuslicher Gewalt gibt es und wie unterscheiden sie sich voneinander?
Häusliche Gewalt umfasst physische, psychische und sexualisierte sowie ökonomische und soziale Gewalt, wobei letztere beide bei der psychischen Gewalt eingeordnet werden können. Sie unterscheiden sich in der Art der Übergriffigkeit: Physische Gewalt beinhaltet körperliche Angriffe, psychische Gewalt lässt sich unter die Begriffe Manipulation und Kontrolle subsumieren, wobei Drohungen oder jemanden zu zwingen, etwas zu tun oder etwas nicht zu tun, Aspekte dieser Manipulation oder Kontrolle sind. Sexualisierte Gewalt bezieht sich auf jegliche nicht einvernehmliche sexuelle Handlung, ökonomische Gewalt entsteht, wenn jemand einer anderen Person finanzielle Ressourcen vorenthält oder sie entzieht, soziale Gewalt bezieht sich auf die Einschränkung, soziale Kontakte zu pflegen.
Welche Faktoren tragen dazu bei, dass häusliche Gewalt entsteht?
Die Ursachen häuslicher Gewalt sind mehrdimensional und auf verschiedenen Ebenen zu betrachten. So sind es auf der Mikroebene zum Beispiel Persönlichkeitsmerkmale wie geringe Frustrationstoleranz oder Impulsivität, aber auch Gesundheitsprobleme, Erfahrungen von Gewalt in der Kindheit oder sozioökonomischer Stress. Auf der Mesoebene sind die sozialen Netzwerke und die institutionellen Strukturen, zu denen sich eine Person zugehörig fühlt, von Bedeutung. Einfluss haben zum Beispiel: Arbeitsplatz, Schule, Gemeinschaft/Peer-Groups. Auf der Makroebene beeinflussen die Gesellschaft, Normen und Werte, Gesetzgebung und wirtschaftliche Bedingungen das Auftreten von häuslicher Gewalt. So können die Duldung gewalttätigen Verhaltens oder stereotype Geschlechterrollen häusliche Gewalt fördern. Armut, Arbeitslosigkeit oder ökonomische Abhängigkeit können ebenfalls eine Rolle spielen, da sie den Stress erhöhen.
Bei Interventionen sind nicht immer strafrechtsrelevante Sachverhalte vorhanden – was ist damit gemeint?
Nicht bei jedem Einsatz treffen die Polizeikräfte auf eine häusliche Situation, die Straftaten offenbart. Damit sind Tatbestände gemeint, die im schweizerischen Strafgesetzbuch aufgeführt sind, wie zum Beispiel Tätlichkeit, Drohung oder Nötigung. Es sind Handlungen, die nach dem Gesetz strafbar sind.
Deckt das Gesetz alle Formen häuslicher Gewalt ab oder bestehen noch Lücken?
Die Fächerung der gesetzlichen Möglichkeiten ist breit und lässt entsprechende Einordnungen zu. Angesichts der Dynamik der häuslichen Gewalt vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels, Stichwort Digitalisierung, ist es sinnvoll, immer mal wieder über Veränderungen im Gesetz nachzudenken. Zum Beispiel feilte im Februar die Rechtskommission des Nationalrats an einem neuen Stalking Gesetzesartikel. Stalking zum Beispiel kann als Phänomen bei häuslicher Gewalt auftreten.
Welche Massnahmen müssten zusätzlich getroffen werden, um die Zahlen zu verringern?
Ich kann mich auf die Tätigkeit unserer Stelle beziehen: Aufklärungsarbeit, zum Beispiel Kampagnen, Vernetzung mit Fachpersonen der jeweiligen Unterstützungsangebote, Organisation von und Information über Schulungsangebote. Wir setzen auf kontinuierliche Evaluation der Schnittstellen, daraus abgeleitete Massnahmen sollen präventiv und reaktiv ausgerichtet sein.
Welche Rolle spielt die Gesellschaft bei der Prävention und Bekämpfung von häuslicher Gewalt?
Die Gesellschaft spielt eine entscheidende Rolle, indem sie das Bewusstsein für die Existenz von häuslicher Gewalt schafft und Haltungen beeinflussen kann.
Rund 30 Prozent Frauen als gewaltausübende Person: Wird das unterschätzt?
Aus der Statistik sind nur die Zahlen der strafrechtsrelevanten Sachverhalte einsehbar. Es kann sich um Situationen handeln, in denen gegenseitig Gewalt ausgeübt wurde. Die Zahlen sagen nichts darüber aus, «wer angefangen» hat oder wie heftig die Gewalt war, wer wie schwer verletzt wurde. Der Katalog von strafbaren Handlungen reicht von Beschimpfungen (psychische Gewalt), über Vergewaltigungen (sexualisierte Gewalt) bis hin zu Tötungen (physische Gewalt).
Wie unterscheidet sich häusliche Gewalt zwischen Männern und Frauen?
Wie schon angesprochen, ist häusliche Gewalt ein komplexes Thema, das Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialem Hintergrund betrifft. Statistische Unterschiede in den Ausprägungen von häuslicher Gewalt zwischen Männern und Frauen können variieren und sind oft von vielen Faktoren abhängig.
In 661 Interventionen waren Minderjährige beteiligt – was sagen Sie dazu?
Es handelt sich um Minderjährige, die während der Paar- oder familiären Gewalt anwesend waren oder Minderjährige, die selbst einen Gewaltübergriff erfahren haben. Es sind auch Minderjährige, die selbst Gewalt ausgeübt haben.
Welche Unterstützungs- und Hilfsangebote stehen Opfern häuslicher Gewalt zur Verfügung?
Opfer können sich an Opferberatungsstellen, Frauenhäuser und weitere Beratungsstellen wenden. Gewaltausübende oder gefährdende Personen finden Beratung bei Beratungsstellen zu diesem Thema sowie Hilfe in sogenannten Lernprogrammen. Ein Lernprogramm ist ein erzieherisches Angebot, das darauf abzielt, gewalttätiges Verhalten zu erkennen und zu verändern, indem es kognitiv-verhaltensorientierte Techniken nutzt, um gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zu fördern.
Interview Benjamin Schmid
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