Maria Pappa
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Theodor Hahn.
Die vegetarische Ernährung hat in St.Gallen eine lange Geschichte wegen der Benediktiner-Regel im Kloster, die den Fleischkonsum massiv einschränkte, eine Vorschrift, die aber oft strapaziert wurde. Ein bekannter leidenschaftlicher Vertreter des fleischlosen Essens in St.Gallen war Theodor Hahn (1824 bis 1883) vom Kurhaus Obere Waid, der auch Bücher zu dieser Ernährungsform herausgab.
Vegetarismus «Auf Fleisch vierfüssiger Tiere sollen alle verzichten, ausser die ganz schwachen Kranken», heisst es in der Benediktiner-Regel, die auch für das Galluskloster galt. Eigentlich ist das eine klare Vorschrift, dennoch hat sie häufig Anlass zu grossen Auseinandersetzungen geführt. So genau wurde sie nicht genommen. 964 suchte im Auftrag Karls des Grossen eine Kommission von je acht Bischöfen und Äbten das St.Galler Kloster auf, weil der Verdacht bestand, dass einige Mönche Fleisch vierfüssiger Tiere ässen. Doch die Visitatoren waren sich nicht einig, wie weit Ausnahmeregelungen zu akzeptieren sind. Wenig später, 972, kam Sandrat nach St.Gallen, ein Mönch aus Trier mit dem Auftrag der lothringischen Reformbewegung, um zu prüfen, ob die Regel mittlerweile gewissenhafter eingehalten wurde. Nach Ekkehart erwies sich Sandrat aber als Heuchler. Während er den Mönchen, auch den Kranken, das Fleischessen untersagte, liess er sich jeden Abend heimlich Fleisch vorsetzen. Die St.Galler Mönche stellten ihm aber eine Falle, ertappten ihn auf frischer Tat und entlarvten so die Doppelmoral des Reformers.
Wenn auch der Verzicht auf Fleisch von vierfüssigen Tieren im Kloster nicht konsequent eingehalten wurde, kann doch davon ausgegangen werden, dass wie in ganz Mitteleuropa bis in die Neuzeit hinein, Mus und Brei nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für die Mönche im Kloster die Hauptnahrung darstellten. Eine wichtige Eiweissquelle waren Hülsenfrüchte. Fleisch blieb lange Zeit der gehobenen Gesellschaf vorbehalten.
Der Wiborada-Vita kann entnommen werden, dass Wiborada (gestorben beim Ungarneinfall 926 in St.Gallen) keinen Wein trank und kein Fleisch ass. Sie führte das zu ihr gebrachte Fleisch oft zum Mund und betrog so den Mund und das Publikum, die glaubten, dass sie Fleisch esse. Sie warf es heimlich weg, wie es in einer Urkunde heisst, um den Geist zu stärken. Sie gab es aber auch armen Menschen weiter oder solchen, die neben ihr standen. Nach einem Speisezettel im Barock für den Hof zu Wil hat die Benediktiner-Speiseregel kaum mehr eine Rolle gespielt, namentlich kaum mehr für die höheren Bediensteten im Kloster.
Lange war danach kaum mehr von den Vorteilen vegetarischer Ernährung in St.Gallen die Rede, wenn man von den Hinweisen in St.Galler Kochbüchern auf die gesundheitliche Bedeutung von Gemüse und Obst absieht, wie im erfolgreichen «Heinrichsbader Kochbuch» von Louise Büchi 1889, das bis 1930 zwanzig Auflagen erlebte. Für mehr Schwung sorgte erst Theodor Hahn, der in seiner Kuranstalt «Oberwaid» in St.Gallen ausschliesslich fleischloses Essen servierte. Persönlich lebte er schon ab 1852 fleischlos. Sein Bekenntnis zum Vegetarismus wurde von anderen Anhängern der frühen Naturheilkunde oft als Grundsatz der naturgemässen Lebensweise übernommen. In seinen Büchern empfahl er neben Vollkornprodukten Milch und Rohkost (rohes Obst und Gemüse) als gesundheitsfördernde Lebensmittel. Seine Kritik am gestiegenen Fleischkonsum verband er mit einer generellen Kritik an städtischen Lebensformen.
«Rationelle Volksernährung für fleischlose Tage» lautet der Titel eines Werks von Berta Wenzin-Stäheli, die in St.Gallen eine Pension betrieb. Sonst aber ist von ihr kaum etwas bekannt. Ihre vielseitige Rezeptsammlung von 1917, die bis 1941 fünf Auflagen erlebte, ist jedoch bemerkenswert wegen den vorgeschlagenen fantasievollen Kombinationen, die noch heute zu begeistern vermögen, obwohl die Autorin auch Rücksicht auf die Rationierungen in den beiden Weltkriegen nahm.
Zurzeit, als die «Rationelle Volksernährung» erschien, war in der «St.Galler Schreibmappe 1918» zu lesen, wie sehr die Bevölkerung unter der Nahrungsknappheit und der Teuerung litt: «Was hat uns der Krieg nicht alles für Entsagungen gebracht! Hausfrauen und Köchinnen berieten und probten. Wenn es zwölf Uhr schlug, stand doch zumindest nur eine zwar dampfende, aber fettarme Suppe auf dem Tisch und hintennach wurde ängstlich verschwiegen ein Etwas aufgetragen, eine neue «Erfindung», in die sich das Familienoberhaupt mit männlicher Todesverachtung vertiefte. Mein wackerer Freund Huldreich half sich folgendermassen: Ein grösseres Stück Brot schnitt er in zwei ungleiche Hälfte, brach vom grösseren Stück ein Endchen und legte dieses auf einen Brocken der grösseren Hälfte. Dann ass er beides zusammen, bildete sich ein, nun Käse und Brot verspiesen zu haben und war hernach seelenvergnügt.» Zur Verknappung des Angebots kam eine grosse Teuerung, die ebenfalls ein Grund ist für grossen Absatz des Werkes von Berta Wenzin-Stäheli. Die Krise der zwanziger und dreissiger Jahre sorgte für weitere Nachfrage und der Zweite Weltkrieg mit der neuen Lebensmittel-Verknappung für neue Aktualität, weil viele Familien erneut «fleischlose Tage» einlegen mussten.
Berta Wenzin-Stäheli hat in ihrem Werk von 1917 eine Fülle von vegetarischen Speisen zusammengetragen, die noch heute aktuell sind, achtete die Autorin doch darauf, dass genügend Vitamine und Eiweiss aufgenommen werden können, aber auch nicht zu wenig oder zu viel Fett konsumiert wird. Dazu schrieb sie im Vorwort: «Es handelt sich im Prinzip doch darum, mit den zugeteilten Fettrationen auszukommen und sie so einzuteilen, dass das bestmögliche Verhältnis von Fett, Kohlenhydraten und Eiweiss, nebst Nährsalzen und gewissen Vitaminen in der Gesamtmahlzeitmenge entsteht. (…) Es wäre eine arge Täuschung, anzunehmen, den Körperhaushalt mit vorwiegender Kartoffelkost oder nur aus dem Wasser gezogenen Gemüsen bestreiten zu können, oder überhaupt ohne Fett zu kochen.» Obwohl wir heute glücklicherweise im Gegensatz zur Zeit der letzten beiden Weltkriege keine Rationierung kennen, auf die Berta Wenzin-Stäheli Rücksicht genommen hat, erfüllen ihre Rezepte auch die Anforderungen an die moderne Küche. Bei den Menüs allerdings unterschritt sie den Kalorienbedarf von 3000 bis 3500 und 4500 für Schwerarbeiter in Rücksicht auf damals nicht erhältliche Lebensmittel um 20 bis 25 Prozent. Doch die zumindest zeitweise Berücksichtigung einer beschränkten Kalorienzufuhr ist gerade heute mit dem grossen Überangebot an kalorienreichen Speisen, denen viele nicht widerstehen können, für die Gesundheit sehr wertvoll.
Der Rezeptteil enthält nicht weniger als 27 Suppen, da nach der Autorin «eine gut zubereitete Suppe ein wesentlicher Bestandteil jeder Mahlzeit bildet.» Dabei weist sie auch auf die Möglichkeit der Restenverwertung hin. Zu finden ist auch ein Rezept für eine «Baumwollsuppe», doch keine Angst, sie enthält keine Baumwolle: «Für vier bis fünf Personen. Zirka 20 Gramm zerlassenes Fett wird mit einem Ei, drei Löffel Mehl, Salz und etwas Milch oder Rahm zu einem dickflüssigen Teig gerührt, durch ein Haarsieb in zwei Liter kochendes Wasser geschüttet und gut durchgerührt. Es bilden sich baumwollähnliche Flöckchen. Man lässt die Suppe aufkochen und gibt sie mit Muskatnuss und Peterli zu Tisch.» Besonders zahlreich sind die Rezepte zu Gemüse- und Griessuppen. Beim Gemüse empfahl Berta Wenzin-Stäheli, das Gemüse nach dem Waschen nicht zu lange im Wasser liegen zu lassen, damit ihnen nicht wichtige Bestandteile entzogen werden. Die jungen Gemüse wie Karotten, Kohlräbli, Sellerie, Chefen, Schwarzwurzeln, Lauch und Rosenkohl sollen mit wenig Wasser gedünstet werden, das heisst im eigenen Saft, möglichst ohne Mehlzusatz. «Nach den Grundsätzen der neueren Ernährungslehre» empfahl sie, das Sauerkraut nicht mehr zu kochen, sondern nur zu temperieren, mit feingehackten Zwiebeln und Knoblauch zu würzen und etwas Öl, Zitronensaft oder Obstessig dazu zu geben. Etwas aussergewöhnlich wirkt das Rezept für Kartoffelstock mit grünen Birnen. Zur «Behebung der Eierknappheit» empfahl die Autorin Milch- und Mehlspeisen, Risotto und Haferflocken-«Koteletts», die aus Milch und Haferflocken bestehen und in wenig Fett gebacken werden. Auch Rezepte zu Salaten, Aufläufen, Puddings und Kompotte fehlen nicht. Den Abschluss bilden Speisezettel für einen ganzen Monat. Speziell interessant sind die Sonntagsmenüs. So werden beispielsweise Gemüsesuppe, mit Rühreiern gefüllte Tomaten, Rahmkartoffeln, Kopfsalat und zum Dessert frisches Obst je nach Saison vorgeschlagen.
Eine Nachwirkung seiner vielen Streitschriften war nach Hahns Ableben in St.Gallen kaum zu spüren. Während um 1900 viele alkoholfreie Lokale entstanden, fehlten vegetarische Restaurants völlig. Noch Jahrzehnte vergingen, bis in St.Gallen endlich ein völlig vegetarisches eröffnet wurde. Inzwischen bieten die meisten Speiserestaurants in St.Gallen auch vegetarische Gerichte und Menüs an, überdies auch vegane. Für veganes Essen setzt sich überdies der Verein «Vegallen» mit einem Internet-Auftritt und Standaktionen ein.
Von Franz Welte
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