Von Fasnachts-Jubiläen und Fasnachts-Verboten
Blick in die Geschichte der fasnächtlichen Aktivitäten in St.Gallen: Vor 150 Jahren fand der erste Fasnachtsumzug statt
Verschiedene Fasnachtsveranstaltungen sind dieses Jahr wegen Corona definitiv abgesagt worden, weshalb ein Blick zurück erst recht angebracht ist: Vor 50 Jahren herrschte eine fasnächtliche Aufbruchstimmung, nachdem immer wieder mit unterschiedlichem Erfolg Versuche unternommen worden waren, auch in St.Galler das Narrentum zu etablieren.
Fasnachtsgeschichte 1972 stand die Maskenparade am Schmutzigen Donnerstag im Mittelpunkt der Fasnacht. Doch verschiedene Fasnächtler planten bereits Neues, und so entwickelte sich vor allem dank Louis Christ (Louis de St.Gall) das Schnitzelbank-Wesen neu, das zwei Jahrzehnte davor Johann Linder in St.Gallen eingeführt hatte. Beim Sterben der Maskenbälle und dem Beginn des Zeitalters der Guggenmusigen und den Schnitzelbänklern sorgten 1972 unentwegte Fasnächtler in St.Gallen für einen neuen Brauch, den «Ehren-Födlebürger-Verschuss». Es trafen sich eine Handvoll Guggenmusiker zum Bier, um über das Födlebürgertum in St.Gallen zu lästern. «Me müsst halt ein vo däne Födlebürger verschüsse», meinte einer gemäss Ehren-Födlebürger-Homepage zu vorgerückter Stunde. «Dänn chämed mer scho i Zitig und Sangale het erscht no en Födlebürger weniger». Damit war der Grundstein zum neuen St.Galler Ereignis gelegt. Doch es waren noch Änderungen nötig, weil kaum anzunehmen war, dass sich jemand freiwillig als Födlebürger zum «Verschuss» zur Verfügung stellen würde. Zum Start und zu den Modifikationen der ersten Idee heisst es im «Ehren-Födlebürger»-Buch von 2005: «Es ist einfach: Ein Födlebürger ist ein Mensch, der kein Födle hat und somit auch keines zeigt. Ein «Ehren-Födlebürger» hingegen verfügt über eine grosse Portion Födle. Wenn also ein gewöhnlicher Födlebürger ohne Födle überdurchschnittlich viel Födle zeigt, wird er z?Sanggale Ehren-födle-Bürger. Und erschossen. Alles klar?» Der allzu früh verstorbene Ur-Fasnächtler, Obergugger und Schnitzelbänkler Hampi Beck soll die Idee weiterentwickelt haben. Die Idee des «Ehrenföbü-Verschusses» setzte dann die Guggenmusik «Pflotschguuge» um. Sie wurde mit den Jahren dahingehend abgewandelt, dass jemandem, der eben Födle zeigt, noch die letzten Reste des Födlebürgertums mit Konfetti ausgepustet werden, er also für den Rest des Lebens nie mehr zum Födlebürger wird. Der «Verschuss» aber blieb im Mittelpunkt.
Gesucht sind «Födle», Herz und Humor
Das Finden von Kandidaten war anfänglich nie ein Problem, die Kriterien waren klar: Eine Kandidatin oder ein Kandidat hat in erster Linie über drei Eigenschaften zu verfügen, «Födle», Herz und Humor. Nun, die Wahl war manchmal umstritten, gerade in letzter Zeit gab es aber kaum mehr Kritik, wurden die Anforderungen in den «Satzungen» noch verfeinert. Der unvergessliche Fest-Organisator und Verkehrsvereins-Vize Kurt Kern mit seinem Lieblingsausdruck «Do chönnt me no öppis mache druus», der auch viele Verdienste um die Etablierung dieses «Brauchs» erwarb, hielt es in seinem Föbü-Buch treffend fest: «Mit dem Ehren-Föbü-Brauch ist die schmuddelige Dekorations- und Beizenfasnacht abgelöst worden von einer Fasnacht, die sich sehen (und hören) lassen kann - ja, um die wir bereits beneidet werden. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die Guggenmusigen und die Schnitzelbänkler.» Schon bei der ersten Wahl hatten die Organisatoren eine glückliche Hand, so chaotisch die Vorbereitungen zunächst waren: Als erster wurde Max Oertle mit der Föbü-Kanone «verschossen», es folgten Kurt Kern und Léon Strässle.
Obwohl auch kritische Stimmen zur Ehren-Föbü-Kreation veröffentlicht worden sind - «Künstlich provozierter Festbetrieb getragen von zugewanderten Nostalgikern» - hat sich das Ereignis in den letzten 50 Jahren gefestigt. Wenig bekannt ist, dass es eine Art Vorläuferin gab. In den 50er-Jahren tauchte gemäss Oskar Fritschis Erinnerungen in der Pause eines Fasnachtskonzerts der Stadtmusik Johann Linder auf, rief spontan zu einer Polonaise auf, aus der sich dann ein «St.Galler Födlebürger-Chörli» entwickelte, das an «Fasnachts-Revuen» teilnahm.
Der erste Fasnachtsumzug vor 150 Jahren
Vor der Erfindung des «Föbü-Verschusses» gab es immer wieder Versuche, eine Fasnacht zu etablieren, die diesen Namen verdient. Vor rund 150 Jahren wurden nicht nur die ersten Fasnachtszeitungen herausgegeben, sondern auch die ersten Fasnachtsumzüge durchgeführt, die später längere Unterbrüche erfuhren. Sie glichen damals eher einer historischen Schau. Die St.Gallerinnen und St.Galler erhielten damals den Gallus vorgeführt, die Helvetia, die stolz auf einem Wagen stand und die Rechte emporhielt, die Kappeler Milchsuppe und der Schah von Persien. Bald schon wurde der Fasnachtsumzug lustiger. So war eine Parodie auf das Leben auf dem «Brühl» zu sehen, wo damals die Schausteller für einen Bombenbetrieb sorgten. Von Pferden gezogene Wagen zeigten eine Menagerie, ein wildes Kasperlitherater und unwahrscheinliche Zirkuskunststücke. Man stellte den Schaulustigen auch eine Mondfahrt vor, den «Bacchus», einen Abschied auf den verschwindenden «Haarzopf» und eine Milchpanscherei. In einer der ersten Fasnachtszeitungen wurden die einzelnen Nummern gar in Versform erläutert. Zum «Zopfzeit»-Ende war da zu lesen:
«Ja, wer die Zeit der Zöpfe wähnt vorüber, den täuschet wirklich nur den Schein Gar mancher hat den Schädel drüber - Die äussere Form tut?s nicht allein.»
Fasnachtsfreuden und Fasnachtskrisen
Es war die fröhliche Gründerzeit, welche den St.Gallern den ersten Fasnachtsumzug bescherte. Doch dann - wie könnte es in St.Gallen anders sein? - brach sofort eine harte Krise über die Stadt herein. Erst 1881 waren die Narren wieder auf den Beinen. «Die Krisis hielt ihren Ein- und Umzug», sprach der damalige Prinz Carneval an sein Volk. «Und der Jubel, dass das Eis endlich gebrochen, dass die bösen 70er-Jahre am Rücken sich Luft machten in einer verbesserten Auflage des Fachingsumzuges. Wie sehr hat sich das müde Herz und der kranke Beutel gesehnt nach den goldenen 80er Jahren..» Mit Unterbrüchen wurden die Fasnachtsumzüge bis ins 20. Jahrhundert hinein fortgesetzt. Die Ziele des Spottes waren schon damals das teure Stadttheater, die drückenden Steuern und der nicht existierende Bärengraben. Ferner fanden sich in den Fasnachtszeitungen, von denen sich die meisten noch Jahrzehnte halten konnten, Glossen auf die Finanzmisere beim Bau der Tonhalle, auf den traurigen Zustand des «Tuchhauses», das die Narren zum Teufel wünschten, auf die Strassenbahn, die Wasserknappheit und die Stadtverschmelzung. Der letzte «Prinz Carneval» in St.Gallen, Alfred Baumgartner, Sekretär des Kaufmännischen Vereins St.Gallen, «kam auf dem grossen roten Narrenschiff, gekleidet in die sanktgallischen Landesfarben, herangesegelt», wie es in einer Chronik heisst. «Auf dem Blumenbergplatz ist er ans Land gestiegen und wurde vom Stadtamman und dem ganzen Stadtrat mit einer schönen Rede begrüsst.» Obwohl das Publikum vom Organisationskomitee ersucht wurde, «durch Würfe von Papierschlangen etc. eine karnevalistische Stimmung zu schaffen», wollte zu jener Krisenzeit nicht so richtig Fasnachtsstimmung aufkommen. Die Fasnachtsumzüge starben nicht aus, wobei allerdings über Jahre nur noch Kinderfasnachtsumzüge stattfanden. Seit 30 Jahren bemüht sich die St.Galler Fasnachtsgesellschaft laufend für eine Aufwertung der Umzüge mit einer grossen Zahl auch auswärtiger Guggenmusigen. Die Zahl der Zuschauer wurde bei den letzten Durchführungen auf über 20000 geschätzt.
Verschwunden sind heute neben den Fasnachtszeitungen auch die allermeisten Fasnachtsbälle, die über Jahrzehnte zum gesellschaftlichen Leben gehörten. Dass es auch den legendären «Mohrenball» nicht mehr gibt, darf im Nachhinein als glückliche Fügung bezeichnet werden, denn die Bezeichnung würde heute zu heftigen Diskussionen führen. Verschwunden sind aber auch der Harmonie-Maskenball, der Künstlerball, der Hexenball und der Nochbuure-Ball, die meist auch Maskenprämierungen durchführten. Es gab auch gut besuchte Kindermaskenbälle mit Prämierungen.
Nicht immer befolgte Verbote der Obrigkeit
Freilich hat man nicht erst vor 150 Jahren in St.Gallen Fasnacht gefeiert. Man datiert die Fasnacht - vom Dreikönigstag bis Aschermittwoch dauernd - ins sechste Jahrhundert zurück. Doch die Obrigkeit verbot schon weit vor der Reformation das Fasnachtstreiben. Um 1300 verordnete der Rat, wie Ernst Ziegler im genannten Ehren-Födlebürger-Buch schreibt: «Wer nachts durch die Stadt tanzt mit Fackeln oder butzen tut, der gibt drei Schillinge zu Busse, jeglicher, so viel ihrer sind, die es tun.» Die Verbote schienen nicht immer eingehalten worden zu sein, zogen doch anno 1484 300 St.Galler verkleidet nach Konstanz, um dort Fasnacht zu feiern. Später kam es auch zu einem Gegenbesuch. Doch den Pfarrern der seit 1527 evangelischen Stadt war die Fasnacht erst recht ein Dorn im Auge. Erneut sah sich der Rat gezwungen, das «heidnische Fasnachtswesen» generell zu verbieten. Vor 350 Jahren stimmte die Synode abermals ihr Klagelied an und der Rat beschloss, im grossen «Mandat» ein «ernstliches Verbot» einzuverleiben. So konnte sich in der nüchternen Kaufmannsstadt im Gegensatz zu anderen sanktgallischen Städten wie Altstätten, Wil, Rapperswil und Walenstadt eben lange kein närrisches Treiben im grossen Stil entwickeln. Fasnächtliche Freuden konnten zwar kaum je völlig unterdrückt werden, doch erst als die Sitten freier wurden, begann ein bescheidenes Fasnachtstreiben unter Mitwirkung breiter Bevölkerungskreise. Immerhin darf sich die Fasnacht heute mit den Ehren-Föbüs, Guggenmusigen und Schnitzelbänklern sowie den Fasnachtsumzügen durchaus sehen lassen - wenn ihnen Corona keinen Strich durch die Rechnung macht.
Von Franz Welte