Grün hinter den Ohren?
Die hohe Niederlage von Boris Tschirky ist nicht für alle Bürgerlichen gleich schmerzhaft. Es sind nicht nur die Linken, welche Sonja Lüthi zu diesem Glanzresultat verholfen haben. Nach diesem Resultat ist klar: Auch die Wähler der SVP haben eine Rolle bei der Wahl Lüthis gespielt.
Stadtrat Zudem hat das linke Lager besser mobilisiert und die von Lüthi selbst kaum thematisierte Frauenfrage hat zu Recht eine Rolle gespielt. Nach der Wahl ist vor der Wahl. Schaut man voraus, dann sieht man glasklar: Die Bürgerlichen müssen jetzt dringend einen Nachfolger für Thomas Scheitlin aufbauen. Der ist aber weit und breit nicht in Sicht. Man scheint auch die nächsten Wahlen bereits zu verschlafen. Die Konsequenz daraus wäre klar: Die Linken übernehmen alle Sitze. Eine Horrorvorstellung für die Bürgerlichen. Doch diese sind selber schuld. Der «bürgerliche Schulterschluss» war wie immer eine Farce. Es ist immer dasselbe Spiel: Am Anfang gibt es ein gemeinsames Mediencommuniqué und schon zwei Wochen später bekommt das Ganze Risse. Jürg Brunner von der SVP eine Mitschuld zu geben, ist völlig absurd. Es war richtig, dass sich auch die SVP an den Wahlen beteiligt hat. Nicht nur Brunner und sein Parteikollege Christian Neff haben grosse Vorbehalte gegenüber Tschirky und der CVP. Beide reden von fehlender Verlässlichkeit, von Windfahnenpolitik. Es ist bedenklich für die CVP, wenn sich Rechtsaussen-Wähler für eine Grünliberale entscheiden. Für einige SVP-Exponenten und offensichtlich auch Wähler ist Sonja Lüthi die bessere Lösung, «weil man bei ihr weiss, woran man ist», wie Brunner auch öffentlich bekannt gab.
Niedergang der CVP
Man kann auch ins benachbarte Gossau schauen: Der Sinkflug der CVP geht unvermindert weiter. «Wir werden zurückkommen», meint Raphael Widmer, Präsident CVP Stadt St.Gallen, nach der Wahl. zu den Medien. Das ist hilflose Rhetorik, denn die Frage ist: Wie denn? Die CVP hat trotz ihrem grössten Aushängeschild mit riesigem Bekanntheitsgrad verloren. Boris Tschirky ist nie in der Stadt angekommen. Auch sein Wahlkampf war bescheiden. Die Stadt mit Plakaten zuzukleistern ist, heute keine Lösung mehr. Sonja Lüthi war auch in den Sozialen Medien deutlich aktiver. Auch ihre Präsenz in der Stadt etwa bei Standaktionen war klar stärker. Man hat auch bei den Podiumsdiskussionen gemerkt, dass die Sympathien bei der Grünliberalen liegen. Das alles lag klar da – und jetzt im Nachhinein ist das allen auch aufgefallen, obwohl man in der Woche zuvor noch Tschirky empfohlen hat. Klar war von Anfang an allerdings auch eines: Das Lebensgefühl in der Stadt hat längst gedreht. Man muss es deshalb noch einmal wiederholen: Starker öffentlicher Verkehr, ein lebhafter Kulturbetrieb und flächendeckende Kinderbetreuung sind Dinge, die das urbane Publikum schweizweit will. Das sind Punkte, welche die Linken aufnehmen. Und deshalb die Schweiz städtetechnisch rot eingefärbt haben. Die Grossstädte Zürich, Bern und Basel sind längst in linker Hand, die mittelgrossen Städte folgen. Auch St.Gallen geht diesen Weg. Ungebremst. Hätte Boris Tschirky gewonnen, hätten weiterhin 80% Männer die Stadt regiert. Das ist im Jahr 2017 schlicht nicht mehr vermittelbar. Die Frauen müssen eine angemessene Vertretung haben. Sonja Lüthi ist mit Ihrem Lebensweg auch eine Identifikationsfigur für viele Frauen. Sie repräsentiert das moderne Lebensgefühl der Stadt. In der Politik, im Job, als Mutter. Bei den bürgerlichen Parteien fehlen diese Integrationsfiguren. Man muss jetzt dringend einen jungen Hoffnungsträger aus dem Ärmel schütteln.
Progressiver FDP-ler
Denn - wie gesagt - nach der Wahl ist vor der Wahl. Für die Linken ist die bürgerliche Zerrissenheit ein gutes Omen. Sie können auch davon ausgehen, dass der nächste Stadtpräsident kaum mehr ein Bürgerlicher sein wird.
Die einzige Möglichkeit wäre ein progressiver FDP-ler – ein klassischer Linksliberaler. In diese Richtung muss man hinwirken, wenn man nicht auch noch den letzten Sitz verlieren will. Das Umdenken muss jetzt stattfinden. Wer nicht mit der Zeit geht, geht. Man muss nicht seine Überzeugungen über Bord werfen, aber man muss sein Programm modifizieren. Jetzt.
Von René Alder