«Gedanken einfach Gedanken sein lassen»
Florian aus St.Gallen leidet seit 20 Jahren an Zwangsgedanken
Die Fachstelle Selbsthilfe St.Gallen und Appenzell bietet Selbsthilfegruppen für verschiedenste Leiden an. Wieder im Aufbau: Eine Selbsthilfegruppe für Personen mit Zwangsstörungen und deren Angehörige. Der 35-jährige Florian erzählt, wie er auf die Diagnose reagiert hat und was ihm im Umgang mit den Zwängen hilft.
Florian, wie äussert sich die Zwangsstörung bei Ihnen?
Bei mir sind es in erster Linie Zwangsgedanken. Gedanken, welche sich in den unpassendsten Situationen aufdrängen und Gedanken, welche ich lieber nicht hätte. Diese beziehen sich bei mir auf Gewalt, Sexualität und Beziehungen. Und wenn ich sie unterdrücken will, werden sie eher noch verstärkt
Wann wurde bei Ihnen eine Zwangsstörung diagnostiziert?
Ich habe 2015 durch eine Selbstdiagnose herausgefunden, was mein Problem ist. Damals war ich jedoch schon fünf Jahre in Therapie - doch die beiden Psychiater, welche ich besucht hatte, haben nicht erkannt, woran ich leide. Nach meiner Selbstdiagnose fand ich eine Klinik in Los Angeles, welche auf Zwangsstörungen spezialisiert ist. Auf der Website jener Klinik habe ich mich das erste Mal im Leben richtig verstanden gefühlt. Bereits im Vorfeld an meinen Aufenthalt in der USA wurde mir meine Selbstdiagnose von einer Psychologin bestätigt. Die Therapie war intensiv - ich verbrachte dreimal pro Woche drei Stunden mit einer Psychologin, mit welcher ich bis heute Kontakt pflege.
Wie fühlten Sie sich bei der Bestätigung Ihrer Diagnose?
Spannend ist, dass es für mich eine Erleichterung war. Ausserdem gab mir die Diagnose wieder Hoffnung. Endlich hatte ich eine Bestätigung von Experten und wusste, wie man mein Problem richtig nennt und behandelt. Endlich gab es einen Plan zur Besserung.
Wie wirkte sich die Diagnose auf Ihren Alltag aus?
Gar nicht. Vor allem im Privatleben hatte ich nie Probleme. Und auch im Arbeitsalltag gab und gibt es durch die Diagnose keine Probleme - denn ich bin selbstständig. Heute werde ich durch die Zwangsstörung im Alltag nicht mehr eingeschränkt - auch wenn die Zwangsstörung chronisch ist. Ich hatte das Glück, eine gute Therapie gemacht zu haben. Manchmal kommen alte Probleme hoch, doch ich weiss mittlerweile, wie ich damit umzugehen habe.
Gibt es spezielle Trigger, welche einen Zwang auslösen oder gar verschlimmern?
Klassische Trigger sind Ungewissheit und Stress. Eine Person mit Zwangsgedanken möchte eine komplette Gewissheit erreichen. Das ist jedoch eine Illusion. Beim Stress ist es so: Je mehr Stress, desto schlimmer werden die Zwangsgedanken. Früher waren bei mir vor allem Messer und Waffen oder auch meine Sexualität ein Trigger. Ich habe lange gedacht, dass ich homosexuell sei - so war jeder hübsche Typ ein Trigger für mich. Ich musste mir zu 100 Prozent sicher sein, dass ich heterosexuell bin. Oder es durften nie Messer bei mir rumliegen, ich musste sie immer direkt in die Schublade versorgen - ansonsten kamen Gedanken auf wie: «Vielleicht steche ich jetzt jemanden mit dem Messer ab» - wobei ich genau wusste, dass ich dies niemals tun würde.
Wie gehen Sie damit um, wenn Sie auf Unverständnis von Mitmenschen treffen?
Bisher musste ich glücklicherweise sehr wenig Negatives im Bezug auf meiner Zwangsstörung erleben. Doch ich muss aufpassen, was ich meinen Mitmenschen für Beispiele von meinen Gedanken erzähle, denn manche können auf gesunde Menschen verstörend wirken. Das «Gute» an meiner Zwangsgedankenstörung ist es, dass man sie nicht sehen kann. Andere Zwangsstörungen, die sich in Handlungen zeigen, werden sofort offensichtlich.
Gibt es etwas, was Sie gegen Ihre Zwänge machen können?
Achtsamkeit. Das Beste, was man bei Zwangsgedanken tun kann ist, Gedanken wertfrei anzunehmen. Ich musste mir bewusst werden, dass es nur Gedanken sind und ich selbst entscheiden kann, was ich damit anfange. Ausserdem beruhigte mich zu wissen, dass alle Menschen hin und wieder seltsame Gedanken haben.
Inwiefern hilft Ihnen die Selbsthilfegruppe?
Es ist für mich eine Möglichkeit, mich sozial mit Gleichgesinnten auszutauschen. Bei einer Selbsthilfegruppe geht es um Verständnis und Verbundenheit. Ein Ersatz für eine professionelle Therapie ist eine Selbsthilfegruppe aber auf keinen Fall, sie dient eher als ergänzende Unterstützung.
Von Cynthia Sieber