«Es gibt nichts anderes als die Sucht»
Im Rahmen der Aktionswoche «Kinder aus suchtbelasteten Familien» von Sucht Schweiz lud die Stiftung Suchthilfe St.Gallen ins Kino zum Film «Platzspitzbaby» mit anschliessender Podiumsdiskussion. Dabei gaben Betroffene einen Einblick in ihr früheres und jetziges Leben.
Sucht «Mit 19 wurde ich heroinabhängig», sagt Patrick*. Der St.Galler mittleren Alters steigt offen und direkt ins Gespräch mit den «St.Galler Nachrichten» ein. Die Vergangenheit des ehemaligen Drogenabhängigen – ein Paradebeispiel: Das ganze Programm habe er damals in seiner Jugend durchgemacht. «Ich lebte auf der Gasse, die Sucht beherrschte mein ganzes Leben. Auch die Platzspitzzeiten erlebte ich täglich mit», erzählt Patrick weiter. Irgendwie habe es ihn dann nach St.Gallen verschlagen, wo er sich hauptsächlich in der Notschlafstelle aufgehalten habe. Dann kam es zum Schlüsselmoment: «Die Geburt meiner Kinder änderte alles in meinem Kopf. Plötzlich lebt man nicht mehr nur für sich», sagt er. Es sei eine extreme Situation gewesen.
Dank der Unterstützung von Fachpersonen durften die Kinder bei Patrick und seiner damaligen Frau bleiben und Patrick kam ins Heroinprogramm. Die extreme Situation zeigte sich auch jeweils dort, bei der kontrollierten Abgabe der Droge. «Die Kinder warteten manchmal draussen vor der Tür, bis ich fertig war. Das waren aber sicherlich Ausnahmefälle. Wir versuchten ein normales Leben zu führen, soweit es nun mal ging», erzählt er weiter. Dennoch betont er: «Von der Sucht wegzukommen, war niemals mein Gedanke. Soweit war ich nicht. Aber ich wollte einfach fähig sein, für meine Kinder da zu sein.»
Als Teenager Kochen und Putzen
An diese Momente wartend vor der Abgabestelle kann sich Joel*, Patricks Sohn, gar nicht mehr so richtig erinnern. «Als ich 10 Jahre alt war, kam die Scheidung meiner Eltern. Erst als ich dann in die Pubertät kam, fing ich an zu realisieren, was eigentlich alles passiert», erzählt der heute 23-Jährige. Während seine Schwester bei Vater Patrick blieb, entschied sich Joel, bei seiner Mutter, die ebenfalls heroinabhängig war, zu leben. Sein Schlüsselmoment sei gekommen, als er als 13-Jähriger nach Hause kam und seine Mutter ohnmächtig auf der Couch liegend aufgefunden habe. Von da an sei jegliche Form von Alltag verloren gewesen. «Ich kochte, ich putzte und wusch für alle.» Alle, das waren damals seine Mutter, deren neuer Partner und dessen Sohn, der starker Kiffer gewesen sei, wie Joel erzählt. Gleichzeitig absolvierte er mit seinen damals 16 Jahren eine Lehre. Mit 18 sei es ihm dann zu viel geworden. Er entschied, zu seinem Vater Patrick zurück zu gehen.
«Ihm ging es damals schon viel besser. Das Programm funktioniert gut bei ihm», sagt Joel zur heutigen Situation der Familie. Mit der Mutter habe er immer wieder versucht, Kontakt aufzunehmen. «Doch letztes Jahr an Weihnachten musste ich einsehen, dass es nichts bringt und ich endgültig loslassen muss. Ich muss einfach akzeptieren, dass der Wille meines Vaters da ist, jener meiner Mutter jedoch nicht», so Joel. Für sie gebe es einfach nichts anderes als die Sucht.
Patrick ist unterdessen erneut Vater geworden. Mit seiner neuen Partnerin Conny* gelang der Neustart. «Der Unterschied zu meinen ersten beiden Kindern ist, dass ich jetzt mehr Sicherheit geben kann. Natürlich hat man da oftmals ein schlechtes Gewissen, ich hätte gerne auch vorher mehr gegeben. Aber ich machte zu jenem Zeitpunkt das Bestmögliche – immerhin», sagt Patrick. Eifersucht zwischen Joel und seinem Halbbruder bestehe keineswegs. «Es ist wunderbar zu sehen, wie Joel mit unserem Kleinen umgeht», sagt Conny.
«Es gibt nicht die Wahrheit»
Wie ein Leben in einer Familie aussieht, wo die Sucht dominiert, zeigt auch der Schweizer Film «Platzspitzbaby», der vor einigen Wochen in die Kinos kam. Erzählt wird die Geschichte einer drogenabhängigen Mutter und ihrer Tochter, beruhend auf der Autobiografie der Schweizerin Michelle Halbheer. Ein Realitätsbezug ist also gegeben, dennoch betont Regine Rust, Geschäftsleiterin der Stiftung Suchthilfe St.Gallen: «Jede und jeder hat eine andere Geschichte. Man kann die Situation für Kinder in suchtbelastenden Familien nie verallgemeinern. Allein die Geschichte von Joel und seiner Schwester ist unterschiedlich», sagt sie. Jeder habe seine Perspektive, es gebe nicht die eine Wahrheit. Wichtig sei die individuelle Unterstützung der Fachpersonen. Dem stimmt auch Patrick zu: «Entscheidend ist, wieviel Druck ausgeübt wird. Wir können nicht alles auf einmal umstellen. Das zu verstehen, ist wichtig», sagt er.
Verständnis zu generieren, die Öffentlichkeit sensibilisieren und vor allem den vergessenen Kindern eine Stimme zu geben – dies war das Ziel der Stiftung Suchthilfe St.Gallen, als sie zum Film und zur Podiumsdiskussion lud. «Denn man geht davon aus, dass jedes siebte Kind in einer Familie mit Suchterkrankung aufwächst», so Rust.
*Namen Redaktion bekannt
Von Ladina Maissen