«Es braucht Mut, dazu zu stehen»
Betroffener spricht über depressiven Verstimmungen im Alter und den Aufbau einer Selbsthilfegruppe
Selbstwertgefühl und Motivation sinken, Angst und Traurigkeit nehmen zu: Depressive Verstimmungen sind Begleiter vieler Menschen – besonders im Alter. Armin Stoffel spricht als Betroffener offen über das Tabu-Thema und will damit anderen Mut machen.
Depression «Ich habe nie ring gelebt», beginnt Armin Stoffel vom Ursprung seiner depressiven Verstimmung zu erzählen. Negative Gefühle seien in seinem Leben ein stetiger Begleiter gewesen. «Ich hatte einen strengen und dominanten Vater sowie eine kränkliche, leicht zerbrechliche, aber sehr fürsorgliche Mutter. Familiäre Spannungen waren also vorprogrammiert. Noch heute erinnere ich mich daran» erzählt Stoffel. Mit lediglich zwölfeinhalb Jahren sei er in ein katholisches Internat in der Innerschweiz gekommen, für rund neun Monate im Jahr. Der heute 76-Jährige spricht offen über seine Lebensgeschichte ? auch über seine depressiven Verstimmungen. «In meiner langjährigen Ehe war ich während vier Jahren in einer Therapie.» Eine spürbare Besserung sei damit leider nicht verbunden gewesen. Aber die damaligen Erfahrungen und Erlebnisse würden ihm heute helfen, mit den ab und zu aufkommenden depressiven Verstimmungen besser umzugehen.
Und dann kam Corona
Mittlerweile lebt der Herisauer mit Walliser Wurzeln seit zwölf Jahren in einer festen und stabilen Beziehung. «Dennoch habe ich lange gezögert, mit meiner Partnerin über das Phänomen der depressiven Verstimmungen zu reden und ihr zu sagen, dass ich mit professioneller Unterstützung gerne eine neue Selbsthilfegruppe dafür gründen möchte.» Warum? Es gebe Schwachstellen, die man besser ausserhalb der Beziehung zu verarbeiten versucht. Diese Schwachstellen, wie der 76-Jährige sie benennt, sind typische Symptome depressiver Verstimmungen: Grübeln, Niedergeschlagenheit, innere Unruhe, Reizbarkeit und Angstzustände. «Am schlimmsten ist es am Morgen, wenn ich aufstehen sollte. Die Frage: ?Was soll ich jetzt tun??, plagt mich in diesen Momenten stark», so Stoffel. Dann müsse er so schnell wie möglich nach draussen an die frische Luft. Er sei ohnehin sehr aktiv. Dies stehe nicht im Widerspruch zu seiner depressiven Verstimmung. Drei Mal in der Woche steht er im Fitnesszentrum, leistet regelmässig Freiwilligenarbeit und ist seit Jahren Stammgast an vielen von der Pro Senectute Appenzell Ausserrhoden angebotenen Anlässen. Zusammen mit gleichgesinnten Kolleginnen rief er im Sommer letzten Jahres sogar ein sogenanntes «Glücks-Kafi» in Herisau ins Leben. Dort trafen sich ältere Menschen monatlich einmal zu Kaffee sowie zum Gedankenaustausch. «Doch mit der Pandemie entfiel das alles. Da fällt man noch tiefer ins Loch», sagt Stoffel.
Offen sein für Neues
Doch wie seit jeher wollte der 76-Jährige auch jetzt im Sinne von Eigenverantwortung handeln. «Ich bin ein offener Mensch, und der Ansatz einer Selbsthilfegruppe ist mir wesentlich sympathischer als Medikamente zu schlucken oder wiederum eine Therapie zu machen», so Stoffel. In Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe St.Gallen und Appenzell erarbeitete er die Grundlagen für eine Gruppe «Depression im Alter». Doch die Resonanz auf den entsprechenden Flyer sei ernüchternd gewesen, wenn auch nicht ganz unerwartet: «Niemand hat sich gemeldet.» Der Herisauer vermutet, dass die Pandemie durchaus Einfluss darauf gehabt habe. «Es braucht vor allem den Mut, dazu zu stehen. Und dieser muss gerade im Alter noch grösser sein. Für viele ist es immer noch ein Tabu-Thema, es ist etwas, das nicht eine Krankheit, sondern nur eine Schwäche ist.» Stoffel ist sich sicher, dass das Bedürfnis für eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit depressiven Verstimmungen im Alter da wäre. Er stützt sich dabei auch auf Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). «Ich selbst kenne Menschen, denen eine solche Gruppe helfen könnte. Sie haben aber Mühe, sich dies einzugestehen und darüber zu reden», sagt er. Genau solchen Menschen will Stoffel mit seiner Offenheit Mut machen und einen Input geben, damit sie sich melden. «Gemeinsam können wir negative Erlebnisse besser verarbeiten.»
Von Ladina Maissen