Christenwehr mit übler antisemitischer Propaganda
Als versucht wurde mit Lügen die Wahl von Juden in die Behörden zu verhindern
Vor hundert Jahren machte sich in St.Gallen die «Schweizer Christenwehr, Gruppe St.Gallen» mit diversen antisemitischen Pamphleten bemerkbar. Vor allem versuchte sie, die Wahl von Juden in verschiedene Gremien zu verhindern. Wie die Bürgerwehr, die sich als polizeiliche Hilfstruppe «unter Ablehnung des Klassenkampfes» verstand, verschwand die Organisation schon Mitte der zwanziger Jahre wieder.
Antisemitismus Die Exponenten der Christenwehr wurden zunächst bei den Bezirksrichterwahlen aktiv. Sie hetzten in einem Flugblatt gegen den Kandidaten der «Demokratischen und Arbeiterpartei», den Kaufmann Isaak Wohlgenannt. Dieser wurde zwar trotz der antisemitischen Aktion wiedergewählt, wies aber 600 Stimmen weniger auf als alle anderen neun Gewählten. Gegen den eigentlichen Urheber der Aktion, Stefan Stauber, Inhaber eines Bijouterie-Geschäftes, wurde Strafklage erhoben. Er wurde auch verurteilt. Der Prozess brachte enge Beziehungen zwischen Stauber und deutschen Antisemiten zutage. Gleichzeitig fiel Josef Böni, Rektor der katholischen Kantonsrealschule und ein Hauptexponent der Christenwehr, durch radikalen Antisemitismus in einem Artikel in der «Ostschweiz» auf. Der Artikel dichtete «den Juden» Pläne zur Weltschwörung, die «wirtschaftliche und sittliche Zersetzung» und die Feindschaft gegen das Christentum an.
Verschwörungstheorien
Zum ersten massiven Auftritt der Christenwehr kam es anlässlich des Referats des Zürcher Theologen Ludwig Köhler über die «ernsten Bibelforscher». In der Diskussion gab Stauber auf antisemitische Konzeptionen basierende Verschwörungstheorien von sich, während der Arzt Walter Fehrmann, der in den 1940er Jahren Mitglied der frontistischen «Nationalen Bewegung Schweiz» war, behauptete, dass das «internationale Judentum» hinter den «Ernsten Bibelforschern» stünde, um «Verwirrung in die westeuropäische Christenheit zu tragen». Die Äusserungen zogen schliesslich auch gerichtliche Folgen nach sich. Wenig später erschien ein grünes antisemitisches Flugblatt, welches gegen die Wahl des freisinnigen Kandidaten jüdischen Glaubens, Henry Reichenbach, in den Grossen Rat (heute Kantonsrat) gerichtet war. Es endete mit den Worten: «Keine Stimme einem Juden! Kampf dem jüdischen System! Nieder mit der jüdischen Überhebung.» Damit wurde der Einzug Reichenbachs ins kantonale Parlament verhindert. Er erhielt rund tausend Stimmen weniger als seine freisinnigen Mitstreiter. Darauf gelangte auch ein höchst vulgär-antisemitisches Gedicht zur Verteilung, das die Polizei beschlagnahmt hatte. In der «Ostschweiz» und im «Stadt-Anzeiger» erschienen hierauf erste Inserate der Christenwehr, die zum Beitritt aufforderten.
Attacke mit Flugblättern
Bei den Gemeinderatswahlen trat die Christenwehr wieder auf den Plan. Ziel der erneuten Attacke war Gemeinderat Saly Mayer (1882 bis 1950), der sich auf der Liste des Freisinns zur Wiederwahl stellte. Die Stadt liess aber das Flugblatt in der Druckerei Theodor Brunner konfiszieren, bevor es verteilt werden konnte. Die Christenwehr schickte allerdings ein zweites Flugblatt in Umlauf, in dem behauptet wurde, die Macht der Juden in der Stadt sei zu gross geworden, weshalb kein Jude mehr gewählt werden dürfe. Auch wurde auf die Konfiszierung des ersten Flugblattes aufmerksam gemacht und erklärt: «Auf Befehl unseres Stadtoberhauptes wurde gestern (..) vom Polizei-Inspektorat St.Gallen das grüne Flugblatt zu den Gemeinderatswahlen, das die Gruppe St.Gallen der schweizerischen Christenwehr herausgeben wollte, wider alles Recht gewalttätig in der Druckerei beschlagnahmt. Soweit ist der jüdische Einfluss in der Gallusstadt gediehen.» Auch dieses zweite Flugblatt wurde verboten, wurde per Post jedoch dennoch weit verbreitet. Saly Mayer gelang trotz der Anfeindungen die Wahl. Er wies jedoch deutlich weniger Stimmen auf als seine Mitkandidaten. Die Christenwehr wollte die Beschlagnahmungen nicht akzeptieren und wandte sich sofort an den Regierungsrat, der die Staatsrechtliche Beschwerde aber ablehnte. Den rechtlichen Beistand für die Christenwehr stellte wie auch für einzelne Exponenten das Advokaturbüro von Johannes Duft und Max Rohr. Das Strafverfahren gegen die Christenwehr wurde eingestellt, weil der Untersuchungsrichter in den Flugblättern «keine Erregung eines Ärgernisses durch Lästerung einer Religionsgesellschaft» sah. Allerdings mussten sich in der Folge einzelne Mitglieder der Christenwehr für ihre Entgleisungen vor Gericht verantworten und teilweise wurden sie auch verurteilt. Die Christenwehr zeigte sich als die radikalste antisemitische Bewegung in St.Gallen. Sie hob sich deutlich ab von dem in den Sozialmilieus nachgewiesenen Antisemitismus, der niemals diese Virulenz aufwies. Sie betrachtete die sogenannte «Judenfrage» nicht als «religiöse Frage», sondern als «Rassenproblem». Walter Fehrmann wollte die Juden sogar aus der Schweiz ausweisen.
Zwiespältige Haltung
Die St.Galler Bevölkerung war vor hundert Jahren zu einem Teil effektiv antisemitisch gestimmt. Durch die Aktivitäten der Christenwehr mit ihrem primitiven Vorgehen wurden zusätzlich unkritische Kreise irregeleitet. Marcel Mayer umschrieb die damalige Situation in seiner Schrift «Das erste Jahrzehnt von Gross-St.Gallen» treffend: «Die jüdische Bevölkerung St.Gallens hatte in den zwanziger Jahren von den übrigen Stadtbewohnern offenbar eine etwas zwiespältige Haltung zu gewärtigen. Auf der einen Seite zollte eine Mehrheit der Bürgerschaft einzelnen Persönlichkeiten gesellschaftliche Anerkennung und Respekt, ja die Übertragung des städtischen Schulwesens an Carl Reichenbach zeugt von einer auch heute keineswegs selbstverständlichen Offenheit. Auf der anderen Seite wuchs in gewissen Kreisen die Bereitschaft, Menschen ausschliesslich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum anzupöbeln, zu beschimpfen und aus der als «Volksgemeinschaft» verstandenen Gesellschaft auszugrenzen». Nach 1924 war in St.Gallen von der Christenwehr nichts mehr zu hören. Böni zog nach Fribourg und nach seiner Konversion nach Paris. Auch Stauber und Fehrmann verliessen St.Gallen 1925 respektive 1927. Offensichtlich war es ihnen in St.Gallen nach den erfolgten Verurteilungen nicht mehr wohl.
Die Wandlungen eines Rektors
Josef Böni, der zum harten Kern der «Christenwehr» gehörte, wirkte beruflich zunächst als Domvikar in der Kathedrale St.Gallen. 1918 übernahm er das Rektorat der Katholischen Kantonsrealschule. 1925 zwang ihn ein schweres Kropfleiden, das Unterrichten aufzugeben. Durch das erneute Studium der Bibel gelang er zur Überzeugung, «dass die biblischen frühchristlichen Grundlagen in der römisch-katholischen Kirche fehlten». Schliesslich gab er dem Bischof von St.Gallen bekannt, dass er aus der katholischen Kirche austreten und sich dem Protestantismus zuwenden wolle. Diese Nachricht schlug, in St.Gallen ein «wie eine Bombe», wie die Zeitungen berichteten. Die «Appenzeller Zeitung» und die «Thurgauer Zeitung» zeigten sich überrascht von der Wendung Bönis nach seinen pointierten Artikeln in der katholischen Presse und als «führende Persönlichkeit in der antisemitischen Christenwehr». Erwähnt wurde auch sein Eingehen einer Ehe mit einer «andersgläubigen Tochter» (Elsy Häberlin, Tochter des Zürcher Nationalrates Hermann Häberlin), nachdem er sich früher als überzeugter Befürworter des Zölibats gegeben hatte. Böni selbst wertete die Hinwendung zum Protestantismus als einen Schritt in die Freiheit. Von 1926 bis 1929 lebte das Ehepaar Böni-Häberlin in Paris und hielt sich mit verschiedenen Tätigkeiten finanziell über Wasser. Danach kehrte es in die Schweiz zurück, zunächst nach Chexbres und baute dort das Mädchenpensionat «Préalpina» auf. 1931 wurde Böni in die Freimaurer-Loge in Vevey aufgenommen. Er holte an der Universität Lausanne das Staatsexamen in evangelischer Theologie nach. 1935 wurde er als Pfarrer nach Trogen gewählt und unterrichtete Religion und Philosophie an der Kantonsschule Trogen. In einer St.Galler Freimaurer-Loge trat er verschiedentlich als Redner auf. Nach seinem Rücktritt vom Pfarramt 1960 zog er nach Bern und arbeitete weiterhin für die Freimaurer-Zeitschrift «Alpina». Antisemitische Äusserungen lassen sich in den späteren Schriften Bönis nicht mehr finden. In seiner Autobiografie «Bekenntnisse eines Konvertiten» verschwieg er seine Mitgliedschaft bei der Christenwehr. Er distanzierte sich aber auch nie von seinen antisemitischen Aktivitäten, weshalb es erstaunen mag, dass er oppositionslos nach Trogen zum Pfarrer gewählt worden war.
Von Franz Welte