Als Johannes Kessler ohne es zu wissen auf Luther traf
Die seltsame erste Begegnung des St.Galler Reformators mit «Junker Jörg»
Der St.Galler Reformator Johannes Kessler (um 1502 bis 1574) reiste vor 500 Jahren als 19-Jähriger mit einem Freund nach Deutschland, um in Wittenberg Luther zu treffen und zu erleben. Doch sie stiessen schon vorher auf ihn, ohne zu wissen, dass es sich um Luther handelte. Dieser gab sich als Junker Jörg aus.
Reformationsgeschichte Als Johannes Kessler mit seinem Freund Wolfgang Spengler auf dem Weg nach Wittenberg in Jena ankam, ging ein heftiges Gewitter nieder. Die beiden Studenten fanden zunächst keine Herberge, um sich vor dem Unwetter zu schützen. Unter dem Stadttor begegneten sie einem freundlichen Mann, der ihnen den Weg zum Wirtshaus «Zum Schwarzen Bären» wies. Der Wirt öffnete ihnen die Türe und hiess sie in der Gaststube willkommen. Da aber die Beiden vom Unwetter schon stark gezeichnet waren, wagten sie es zunächst nicht, am Tisch Platz zu nehmen. Verschämt setzten sie sich auf eine Bank nahe der Türe. Am Tisch sass ein Ritter, «in ainem roten schlepli (Kopfbedeckung), in blossen Hosen und wammes, an schwert an der siten, mit der rechten hand du des schwerts knopf, mit der anderen das hefte (den Griff des Schwertes) umfangen», wie Kessler später in seinem berühmten Reformationswerk «Sabbata» schrieb. Er lud die beiden fremden Gäste zu sich an den Tisch ein und bot ihnen zu trinken an. Er fragte sie nach ihrer Herkunft und als sie St.Gallen nannten, zählte er die Namen von St.Gallern an der Universität Wittenberg auf.
Luther über Luther
Auf die Frage, ob Luther sich nun in Wittenberg aufhalte, antwortete der Ritter gemäss «Sabbata»: «Ich hab gewisse kundtschaft, das der Luther ietzmal nit zuo Wittenberg ist; er sol aber bald dahin kommen». Die beiden St.Galler liessen den Ritter wissen, dass sie es für wichtig halten, Martin Luther zu hören. Sie möchten Priester werden. Und jetzt hätten sie gehört, dass Luther das Priestertum und die Messe in Frage stelle. Unvermittelt stellte der Ritter die Frage, was man in der Schweiz denn von Luther halte. «Min her, es sind (wie allenthalben) manigerlai meinungen. Etlich könnend in nit gnuogsam erheben und Gott danken, dass er sin warhait durch in geoffenbaret und die irrhtumb zuo erkennen geben hat; etlich verdammen in als ainen unlidigen ketzer?» Der Ritter kam den beiden St.Gallern immer seltsamer vor und sie staunten nicht schlecht, als sie vor ihm auf dem Tisch eine hebräische Ausgabe der Psalmen entdeckten. Dann flüsterte der Wirt den Beiden zu, dass der fremde Ritter Luther sei, doch sie konnten es trotz seiner Äusserungen, die auf theologische Bildung schliessen liessen, nicht glauben. Kessler meinte, der Wirt habe bloss einen Spass gemacht. Während des Nachtessens stiessen zwei Kaufleute zur Tafelrunde. Erneut wurde über Luther gesprochen, da einer ein neues Buch des Wittenberger Reformators bei sich hatte. Der andere Gast meinte: «Wie mich die sach ansicht, so muess der Luther aintweders ain engel von himel oder ein tüfel us der hell sin.» Der fremde Ritter bezahlte für die beiden St.Galler die Rechnung.
In Wittenberg lüftete sich das Geheimnis
Erst nach ihrer Ankunft in Wittenberg lüftete sich für sie das Geheimnis. Martin Luther hatte sich, begleitet vom St.Galler Juristen Dr. Hieronymus Schürpf, zum Reichstag zu Worms begeben. Dort wurde Luther zu einer Art Schutzhaft auf der Wartburg verknurrt. Unruhen in Wittenberg bewogen ihn aber, als «Junker Jörg» verkleidet nach Hause zu reisen. Und so trafen die beiden Studenten aus St.Gallen den 39-jährigen Luther zufällig in einer Wirtsstube in Jena. Es ist keine Frage, dass Luther in der Folge das Denken und Handeln des St.Galler Reformators massgeblich beeinflusste. Kessler gab seinen ursprünglichen Plan auf, sich zum Priester weihen zu lassen. Evangelischer Pfarrer konnte er nicht werden, da es in St.Gallen noch keine evangelische Kirche gab. So begann er nach seiner Rückkehr hier mit einer Lehre bei einem Sattler. Seine Tätigkeit als Prediger und «Leser» blieb neben- und ehrenamtlich.
Von Franz Welte