Aktive Hitler-Jugend in St.Gallen
Reichsdeutsche Jugend war in der Ostschweiz stark präsent
Die «Reichsdeutsche Jugend» (RDJ), anfänglich «Hitler-Jugend» (HJ) bezeichnet, war auch in St.Gallen aktiv, wie aus der neuen Studie «Führer, wir stehen zu dir. Die Reichsdeutsche Jugend in der Schweiz» von Martin J. Bucher hervorgeht. Bereits 1935 wurde eine RDJ-Sektion gegründet. Eng verbunden mit der RDJ war das Institut auf dem Rosenberg.
NS-Jugendpolitik Ihren ersten grossen Auftritt hatte die RDJ als Organisation für deutsche Staatsangehörige in St.Gallen anlässlich der Feier des Tages der Deutschen Arbeit im Schützengarten-Saal. Die Jungen sangen nationalsozialistische Lieder, während die Mädchen deutsche Tänze aufführten. Die Mitgliederzahl nahm in der Folge stark zu, sodass sie auf ihrem Höhepunkt 1942 über 150 Mitglieder zählte. Es gab im Kanton St.Gallen fünf RDJ-Standorte. In der RDJ wirkte mit Elsa Hammann neben einem illegalen Landesführer eine «Mädelreferentin» (Bund Deutscher Mädel), die ursprünglich als Bürolistin im Konsulat in St.Gallen angestellt worden war. Hart ging der St.Galler Standortführer 1939 gegen Mitglieder vor, die mit der Bezahlung des Mitgliederbeitrages in Rückstand geraten waren oder den Tagungen fernblieben. Ihnen wurden Schwierigkeiten bei der Rückkehr nach Deutschland angedroht, insbesondere Behinderungen bei der beruflichen Ausbildung. Einem Mädchen in Mörschwil, das nicht mehr regelmässig zu den Veranstaltungen erschien, wurde der Ausschluss aus der RDJ angedroht: «Was dieser für Folgen hat, brauche ich dir jedenfalls nicht mehr näher zu erklären. Du hast dann in Deutschland auf alle Fälle nichts mehr zu suchen». Die Folgen blieben nicht aus: Ihre Tante verlor zahlreiche Kundschaft im Sanatorium Valbella.
Politik und Polizei leisteten Widerstand in der Startphase
In einer ersten Phase versuchten die Behörden die Aktivitäten der NSDAP und auch jene der «Reichsdeutschen Jugend» zu unterbinden. So untersagte die Stadtpolizei St.Gallen einen Auftritt von Reichsjugendführer Artur Axmann zum Thema «Das junge Deutschland will Arbeit und Frieden» im «Schützengarten»-Saal. Das deutsche Konsulat legte beim Polizeidepartement des Kantons Rekurs ein. Diesen lehnte der Regierungsrat mit der Begründung ab, der Vortrag verfolge politische Zwecke. Im Interesse der Ruhe und der öffentlichen Ordnung in St.Gallen sah die Regierung die Rede Axmanns als unerwünscht an. Regierungsrat Valentin Keel erklärte in seinem Antwortschreiben an das Konsulat, dass sowohl die Behörden wie auch die Bevölkerung die intensive agitatorische Tätigkeit der NSDAP unpassend und dem demokratischen Empfinden widersprechend fänden. In anderen Städten nahmen die Behörden damals noch keinen Anstoss an der NSDAP-Agitation. Das lässt eine zunächst konsequente Haltung der St.Galler Behörden erkennen. Die Toleranz anderer Städte ist aber auch darauf zurückzuführen, dass das Eidgenössische Politische Departement (EPD) erst im September 1935 für die Kantone verbindliche Richtlinien für den Umgang mit ausländischen Rednern aufstellte. Dabei wurde angeordnet, dass die kantonalen Polizeibehörden ihre Entscheide gemeinsam mit der Bundesanwaltschaft zu treffen hätten. Auf öffentlichen Druck hin wurden die Landes- und Kreisleitungen der NSDAP und ihrer Unterorganisationen verboten. Ein generelles Verbot, wie es Nationalrat Bringolf gefordert hatte, wollte der Bundesrat jedoch nicht erlassen. So konnten die Ortsgruppen und Stützpunkte ihre Arbeit fortsetzen. Die einzelnen Standorte der Hitler-Jugend wurden in der Folge von Deutschland aus auch über die Konsulate geleitet. Aufgrund eines Kreisschreibens des St.Galler Erziehungsdepartements, wonach den Schülerinnen und Schülern eine Mitgliedschaft bei politischen Vereinen untersagt sei, verbot der Schulrat Rorschach die HJ. Der St.Galler Polizeidirektor Valentin Keel wollte 1941 auch ein RDJ-Lager in Oberhelfenschwil verhindern, zumal in der Karwoche gemäss dem sanktgallischen Sonntagsruhegesetz «gesellige und andere Veranstaltungen» nicht stattfinden durften. Doch der Gesamtbundesrat bewilligte das Lager, was die Bundesanwaltschaft dem St.Galler Polizeidepartement per Telegramm mitteilte.
Das Institut auf dem Rosenberg als RDJ-Hochburg
Eine wichtige Rolle für die RDJ spielte in der Schweiz das Institut auf dem Rosenberg in St.Gallen, damals die grösste Privatschule der Schweiz. Während des Krieges sank die Schülerzahl auf 150, etwa die Hälfte von ihnen waren deutsche Reichsangehörige. Die Direktoren Lusser und Gademann galten gemäss dem Verfasser des Buches, Martin J. Bucher, als Bewunderer des Nationalsozialismus und unterhielten gute Kontakte zum Dritten Reich. Es gab auch ein Abkommen mit dem Deutschen Reich über die Aufnahme und Finanzierung von Schülerinnen und Schülern. Damit das Institut weiterhin die Bewilligung erhielt, reichsdeutsche Kinder aufzunehmen, stellte es einen Angehörigen der SS und Vertrauensmann der NSDAP, Karl Sommer, als Turnlehrer ein. Die beiden Direktoren hatten guten Kontakt zum reichsdeutschen Konsul Weyrauch, der nur wenige hundert Meter vom Institut entfernt in der Villa Rosenhof (Villa «Wahnsinn») seinen Sitz hatte. Nach dem Krieg hielt die Kantonspolizei 1945 fest, dass der grösste Teil der örtlichen RDJ durch Internatsschülerinnen und -schüler gestellt worden sei: «Innerhalb dieses Instituts war durch den früheren deutschen Sportlehrer Sommer eine durchtrainierte Truppe für die HJ ausgebildet worden.» Immer wieder befasste sich die Polizei mit dem Institut, das der RDJ auch Räume zur Verfügung stellte, insbesondere die Turnhalle. An der Buchmesse in St.Gallen 1941 las ein Schüler an einer Vortragsreihe einen Aufsatz vor, den der polizeiliche Beobachter «als eine direkte Propaganda für das nationalsozialistische Deutschland» bezeichnete. So stellte der Schüler Hitlers «Mein Kampf» auf die gleiche Stufe mit Luthers Bibel oder Goethes Faust. Für einen Schweizer Lehrer, der schon nach kurzem seine Stelle kündigte, war klar, dass das Institut ein «Nazi-Nest» war. Die deutschen Schülerinnen und Schüler würden an gut sichtbarer Stelle ihr provozierendes «HJ»-Zeichen tragen, stellte er fest. In der Öffentlichkeit würden sie oft ihre RDJ-Uniform, ein weisses Hemd und kurze Hosen, tragen. Die RDJ nahm immer wieder Einfluss auf das Institut. Der Landesjugendführer Heinrich Bieg war mit beiden Direktoren bekannt und verkehrte dienstlich mit ihnen. In einem polizeilichen Bericht von 1941 ist die Rede von einem Spionagefall in St.Gallen, in den Angehörige der RDJ verwickelt waren. Ein Journalist spielte der Polizei eine Mappe zu, die auch Aussagen über militärische Anlagen in der Region St.Gallen enthielt. Die Berichte sollen von Schülern des Instituts auf dem Rosenberg verfasst worden sein. Nach Kriegsende bemühte sich die Institutsleitung, die Deutschfreundlichkeit zur Nazi-Zeit zu vertuschen, und es wurde beteuert, dass am Institut keine Politik betrieben werde. Die ausländischen Schülerinnen und Schüler hätten die Schule «besonders aus Sympathie gegenüber dem freien, demokratischen Milieu unseres Landes gewählt.» Direktor Gademann liess durch seinen Vater sämtliche Ausgaben der «Nation» vom 26. September 1945 aufkaufen, weil diese eine Glosse enthielt, in der das Institut mit den Aktivitäten der RDJ in Verbindung gebracht wurde.
Die Treffpunkte in St.Gallen und Umgebung
Immer wieder kam es zu RDJ-Veranstaltungen im Restaurant Schützengarten. 1937 fand im Frohsinnsaal ein RDJ-Elternabend statt. Der deutsche Konsul in St.Gallen, Freiherr von Falkenhausen, informierte die Eltern über die «Notwendigkeit des Zusammenschlusses der deutschen Jugend in der HJ». Noch 1944 fand hier eine «Verpflichtungsfeier» statt, bei der die rund 150 Mitglieder aus St.Gallen und Rorschach daran erinnert wurden, dass «auch die auslanddeutsche Jugend die gleiche Disziplin und Beharrlichkeit und den gleichen Kameradschaftsgeist besitzen muss wie die Jugend im Reich.» Der örtlichen RDF-Sektion stand das «Deutsche Heim» an der Haldenstrasse 1 in St.Gallen zur Verfügung. Hier fanden immer wieder «Heim-Abende» statt. Aus einem polizeilichen Überwachungsbericht geht hervor, dass jeweils Kapitel aus Hitlers «Mein Kampf» vorgelesen wurden. In Ebnat Kappel wurde der RDJ 1942 im Gebiet Stangen eine Ski- und Klubhaushütte zur Verfügung gestellt, wobei gegenüber der Kantonspolizei behauptet wurde, der Betrieb der Hütte habe keineswegs politischen Charakter, sondern sei ein Ferienheim für deutsche Kinder. Doch die Polizei schenkte dieser Aussage keinen Glauben und liess die erste Zusammenkunft überwachen. Es handelte sich um eine Standortführertagung der RDJ Schweiz. Ende 1942 organisierte in der Stangenhütte die RDJ St.Gallen ein Skiwochenende. Eine Durchsuchung der Hütte nach dem Krieg, als der Hüttenwart bereits das Weite gesucht hatte, ergab, dass hier regelmässig RDJ-Führertagungen und Schulungskurse durchgeführt worden waren. Eine ähnliche Funktion hatte das Heim Risi ob Heiden. Ein St.Galler Kantonspolizist verhinderte mit seinen Interventionen bei den Vermietern, dass die RDJ in den Flumserbergen ein Haus mieten konnte. Die Führerinnen der «Mädel»-Organisation trafen sich 1941 in der Jugendherberge St.Gallen zur Wochenendschulung. Der Aufmarsch erregte bei einzelnen Anwohnerinnen und Anwohnern Widerwillen, insbesondere wegen der gesungenen Nazi-Lieder.
Ein rasches Ende nach kurzer Blütezeit
Das Kommando der St.Galler Kantonspolizei hielt nach dem Krieg fest, dass sich nach der Niederlage Frankreichs 1940 «bei den deutschen nationalsozialistischen Organisationen ein sprunghaftes Ansteigen der Mitgliederzahlen zeigte». Vor dem Niedergang war auch in St.Gallen eine RDJ-Blütezeit zu beobachten. Schon 1944 lagen aber die Tätigkeiten der RDJ mehr oder weniger auf Eis. Der St.Galler Standortführer zeigte sich dennoch optimistisch. Er meldete dem Landesführer Heinrich Bieg, die Jugendlichen würden jetzt erst recht zusammenstehen und die Kameradschaft pflegen. Doch am 1. Mai 1945 beschloss der Bundesrat, alle nationalsozialistischen Organisationen aufzuheben. Wie überall in der Schweiz ist die Aktenlage zur RDJ auch in St.Gallen schlecht, da die Konsulate und Gruppierungen beim Zusammenbruch des Dritten Reiches in grossem Stil Akten vernichteten. So liess das deutsche Konsulat in St.Gallen am 3. Mai 1945 in der Papiermühle in Thal 1200 Kilogramm Akten einstampfen. Immerhin sind diverse Feststellungen der aufmerksamen St.Galler Kantonspolizei erhalten geblieben, die das Ausmass der RDJ-Umtriebe gut erkennen lassen.
Von Franz Welte